„Vom Rad auf dem Kirchturm“

Macht auch das Motto „Vom Handeln zum Wissen zum Handeln“ Sinn? Im Haus der Solidarität (HdS) schon.

Neulich stand ich vor einem Kirchturm auf dem ein Künstler ein Rad befestigt hatte (siehe Foto). Während ich die interessante Installation betrachtete, fiel mir das Schwerpunktthema des OEW-Rundbriefs ein: „Vom Wissen zum Handeln“. Verwundert fragte ich mich: Was hat wohl das eine mit dem anderen zu tun? Einige Tage später fiel es mir ein

Es war einmal ein Mann, der etwas ganz Besonderes unternehmen wollte: Er wollte wissen, wie es ist, mit seinem Fahrrad einen Kirchturm hinaufzufahren. Also stieg er auf sein Rad und fuhr los. Er radelte die Straße empor bis zu einem kleinen Dorf. Ganz oben stand ein Kirchturm. Der Mann radelte und radelte bis er am Fuße des Kirchturms angelangte. Nun wusste er nicht mehr weiter. Er versuchte hinaufzuklettern, was misslang. Er bat andere um Hilfe, doch vergeblich. Schließlich band er sich und sein Rad an ein Seil und kletterte hinauf. Am Ziel angekommen blickte er zufrieden und glücklich zuerst in die Tiefe, dann in die Weite und freute sich über den Anblick und seine Leistung. Jetzt wusste er, wie es ist, mit einem Fahrrad einen Kirchturm hinaufzufahren. Der Mann kehrte zurück und berichtete allen über das, was er nunmehr wusste…

Dieser Radfahrer könnte das HdS sein. Wie dieser haben wir Zeit des Bestehens Neues ausprobiert, das Besondere gesucht, alternative Wege eingeschlagen. Und wie dieser radelt es los, schreitet gleich zur Tat, sammelt Erfahrungen, macht Fehler und Fortschritte. Erst allmählich kristallisiert das HdS daraus einen Schatz von Wissen. Diesen gibt es dann an andere weiter.

Der Radfahrer wie das HdS folgen nicht dem Motto „Vom Wissen zum Handeln“, sondern jenem vom „Handeln zum Wissen zum Handeln“. Wir tun dies angesichts täglicher Herausforderungen in einem Haus, das kontinuierlich mehr als 50 Menschen aus mehr als 20 Nationen beherbergt. Hier einige Beispiele.

–          Integration und friedliches Zusammenleben: Angesichts von Kriegen und Konflikten überall auf der Welt ist dies eine Herkulesaufgabe auch im HdS. Als immer mehr Menschen aus anderen Ländern an die braune Tür des HdS klopften, wussten wir nicht, wie damit umgehen. Aber es gab große Bereitschaft, es auszuprobieren. Viele Jahre und häufiges Scheitern später wissen wir, dass ein Gleichgewicht zwischen den Kulturen und ein rascher Spracherwerb die Integration erleichtern. Ebenso haben wir gelernt, die Regeln behutsam immer von Neuem zu wiederholen, aber auch die Werte anderer Kulturen zu respektieren. Diese teils schmerzhaften Erfahrungen geben wir fast täglich wieder an die Aufnahmegesellschaft weiter.

–          Umweltschutz: Ebenfalls eine der großen ungelösten Fragen unserer Zeit. Im HdS machen wir bei diesem Thema ständig zwei Schritte vor und einen zurück. Viele Menschen aus anderen Ländern kommen im HdS das erste Mal mit Umweltschutz in Berührung: Mülltrennen und -vermeiden, Strom und Heizung sparen, Abfall entsorgen, statt in der Natur zu deponieren. Immer wieder starten wir Versuche, die Gäste für dieses Anliegen zu gewinnen. Immer wieder machen wir Rückschläge. Aber mit jedem Rückschlag lernen wir, vermehren unser Wissen. Und können dieses dann wiederum weitergeben.

–          Nahrung: Ein Grundbedürfnis und eine globale Herausforderung. Alles, was mit Essen zu tun hat, ist im HdS ein ständiges Thema. Dazu gehören die Produktion (Gartenprojekt) und Organisation (Banco Alimentare) von Lebensmitteln ebenso, wie der Transport (Verfallsware von Geschäften) und die gerechte Verteilung, sowie das Zubereiten, Verzehren und Wegräumen derselben. Wir denken kontinuierlich nach, wie sich all dies verbessern ließe. Ideen werden geboren, ausprobiert und verworfen. Langsam setzt sich eine Lösung durch. Ein kleines Stück Wissen hat sich gebildet. Darauf lässt sich aufbauen – der nächste kleine Baustein …

… so wie der Radfahrer, der zunächst einfach losgefahren ist, und im Fahren Wissen sammelte, das ihn schließlich auf die Spitze des Kirchturms brachte.

Alexander Nitz (Mitglied der Leitung des HdS)