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Die Sonne sehen

IMG_0264 (Klein)Gedanken zu „Entwicklung auf Augenhöhe“ im Haus der Solidarität.

Entwickeln. Man nehmen den Begriff und zerlege ihn in seine Teile: „ent“ und „wickeln“. Dann suche man nach Synonymen: Wickel entfernen, Fadenwickel öffnen, Fotos entwickeln oder nachmachen. Im Anschluss stelle man die Frage: Was „entwickeln“? Und wer wen? Schließlich stelle man sich vor: „Entwicklung auf Augenhöhe“ …

Dieses Rezept kann nicht gelingen. Jedenfalls nicht im Haus der Solidarität (HdS). Die langjährige Mitarbeiterin von OEW und HdS Luzi Lintner sagte hierzu treffend: „Wenn wir jemanden entwickeln, dann braucht es jemanden, der entwickelt, und jemanden, der sich entwickeln lässt.“ Es gibt also stets ein Oben und ein Unten. „Entwicklung auf Augenhöhe“ ist damit ein Widerspruch an sich.

Für Luzi Lintner galt dies sowohl für die „Entwicklung der armen Länder des Südens“ als auch für die „Entwicklung von armen Menschen bei uns“. Inzwischen zeigt sich sowohl auf globaler als auch auf individueller Ebene, dass „Entwicklung“ in erster Linie von innen kommen muss. So fordern immer mehr afrikanische Intellektuelle ernsthaft, dass keine „Gelder für Entwicklungshilfe“ vom Norden in den Süden fließen sollen. Stattdessen sollen die Länder selbst ihre Probleme in Angriff nehmen. Demnach macht Hilfe nur Sinn, wenn sie zur Selbsthilfe führt – ein Gedanke, den wir im HdS so unterschreiben können.

Bleibt die Frage: Und sich selbst entwickeln? Dies ist möglich, aber schwer. Sich selbst zu verändern, in früher Kindheit erlernte Muster abzulegen, Gewohnheiten und Glaubenssätze umzuformen, ist sehr anstrengend. Aber es geht. Die Gehirnforschung zeigt, dass – entgegen der Meinung vieler – Lernen bis ins hohe Alter möglich ist. Voraussetzung hierfür ist: Begeisterung für das zu Lernende.

Und damit sind wir beim Kern des „Entwicklungskonzeptes“ des HdS: Die Menschen, die für kürzere oder längere Zeit zu uns kommen, beladen mit einem Rucksack von Problemen, lassen sich nicht entwickeln. Jedenfalls nicht von uns als Hausleitung. Sie können sich nur selbst entwickelnund verändern. Als HdS können wir sie höchstens dazu einladen, ermutigen und inspirieren.

Die Einsicht, dass jeder für sich selbst entscheidet und damit auch verantwortlich ist, fällt nicht nur den Betroffenen, sondern auch uns als Begleitpersonen schwer. Wir üben uns täglich in dieser Haltung: Jeden Menschen in seiner Verantwortung zu belassen. Sonst ist die Gefahr groß, anstelle von Unabhängigkeiten aufzubauen, Abhängigkeiten zu zementieren. Ein Beispiel: Verschiedene soziale Einrichtungen unterstützen eine alleinstehende Frau mit mehreren Kindern über Jahre. Als es Zeit ist, einen Schritt in Richtung Unabhängigkeit zu tun, und sich eine eigene Wohnung zu suchen, verlässt sich die Frau weiter auf die Hilfe von Außen. Als dies nicht mehr funktioniert, mobilisiert sie die Öffentlichkeit, um bitter anzuklagen, dass man sie im Stich gelassen habe.

Im Übrigen bedeutet „Entwicklung“ nicht für jeden dasselbe. Für einige Gäste bedeutet es schon einen Fortschritt zur früheren Situation, wenn sie einfach im HdS SEIN dürfen. Andere hingegen haben den Anspruch, so schnell wie möglich eine Arbeit, eine Wohnung und eine neue Existenz aufzubauen. Menschen, die von weit her ins „entwickelte“ Europa kommen, glauben sich am Ziel ihrer Wünsche. Für andere ist es erst der Anfang. „Entwicklung“ ist insofern ein höchst subjektives Konzept, das für jeden etwas anderes bedeutet.

Was tun wir also im HdS, um diese individuellen „Entwicklungsansprüche“ zu fördern? Der erste Schritt ist, das Positive im Menschen wahrzunehmen. Eine Sonne im Büro erinnert uns dauernd daran, dass jeder Mensch leuchtet, wenn wir es nur sehen – egal wie schwer seine Last, wie drückend sein Schicksal auch ist. Bei vielen Menschen in schwierigen Lebenslagen sind die Talente und Fähigkeiten verschüttet und müssen zuerst freigeschaufelt werden. Ein Mann mit einem chronischen Alkoholproblem, einer langen Geschichte auf der Straße und X Erfahrungen des Scheiterns – wo sind seine Talente? Oft sind es kleine Dinge, die wir leicht übersehen. Im Fall des Mannes, beobachteten wir eine Passion für die Gartenarbeit. Wir versuchten, diese zu fördern und ihn darin zu bestärken. Letztlich liegt es aber am Mann, etwas daraus zu machen.

Die Frage „Und was kannst Du tun?“ hilft uns außerdem, die Verantwortung dort zu lassen, wohin sie gehört. Der Versuch, wertschätzend zu seingemäß dem Motto „Der Ton macht die Musik“ entspannt viele konfliktreiche Situationen und bereitet den Boden für Veränderung. Voraussetzung für all dies ist jedoch, dass es uns selbst gut geht. Wenn wir gute Energie verspüren und genügend Ressourcen zur Verfügung haben, sind wir bessere „Entwicklungspromotoren“. Es ist klar, diese Haltung gelingt nicht immer, aber wir versuchen im HdS doch, sie immer wieder einzunehmen.

Daneben gibt es noch die Möglichkeit, die Rahmenbedingungen zu verändern und „Entwicklung“ zu fördern. Im Süden würde das bedeuten, „good governance“, eine gute Regierungsführung, einzufordern, unfaire Handelsregelungen abzubauen, die Lasten gleichmäßiger zu verteilen. Im HdS heißt das, Sensibilisierungsarbeit zu leisten, unsere Erfahrungen im Zusammenleben mit Menschen verschiedener Herkunft und Problematiken zu teilen, ständig zu vermitteln zwischen den Gästen unseres Hauses und der Gesellschaft und eben die Menschen ständig einzuladen, zu ermutigen, zu inspirieren, sich zu verändern.

Erst im Zusammenspiel zwischen den äußeren und inneren Veränderungsmöglichkeiten der Gäste des HdS ist eine nachhaltige „Entwicklung“ möglich.

Alexander Nitz, Mitglied der Hausleitung

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