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„Es müssten 0 sein.“ – Obdachlosigkeit in Südtirol

Obdachlosigkeit. Ein Thema, welches im Alltag oft zu wenig Gehör bekommt. Wir im Haus der Solidarität werden aber tagtäglich damit konfrontiert.

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„Ich war ein Glas von der Obdachlosigkeit entfernt!“, sagte mir vor Jahren ein Sozialarbeiter, mit dem ich arbeitsmäßig viel zu tun hatte. „Ein Glas Alkohol mehr und ich hätte mich nicht mehr unter Kontrolle gehabt und wäre auf der Straße gelandet.“
Natürlich war das Glas nur ein Symbol. Was er sagen wollte, war, dass es bei ihm, der ein geordnetes Leben geführt hatte, mit Menschen in Schwierigkeiten Tag für Tag zu tun hatte, sie begleitete und ihnen tatsächlich auch „Zurück zur Normalität“ half, selbst nicht fiel gefehlt hatte, in die Obdachlosigkeit abzurutschen. Er hatte sich von seiner Partnerin getrennt. Den Schmerz versuchte er im Alkohol zu ertränken. Die Straße wäre die nächste und letzte Station gewesen.

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Eine Geschichte von vielen. Eine Geschichte von vielen, die wir im Haus der Solidarität und in vielen anderen Organisationen in Südtirol Tag für Tag hören. Wir alle befassen uns mit den Menschen, weniger mit Zahlen. Wir im HdS sind keine ExpertInnen, keine ForscherInnen oder WissenschaftlerInnen. Das Thema Obdachlosigkeit begegnet uns in der Form von konkreter Not und nicht als Zahl.

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Wobei: nach Zahlen sucht man in Südtirol vergeblich. Ich habe jedenfalls keine aktuellen gefunden, weder von den Sozialdiensten in Brixen, noch von der Abteilung Soziales in Bozen.
Und gerade diese Zahlen bräuchte es. In Berlin redet man davon, dass 8.000 (!) Menschen auf der Straße stehen. So viele wie in Rom. In Mailand sollen es sogar 12.000 sein. Und in Südtirol? Die Provinz die jedes Jahr im Sole24Ore unter den Erstplatzierten landet, was Reichtum und Wohlstand anbelangt?
Es müssten 0 sein!

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Der Landessozialbericht von 2015 spricht von 500 Obdachlosen. Es sind wahrscheinlich viel mehr. Denn der Bericht rechnet jene nicht dazu, die bei Freunden, Verwandten oder Arbeitgebern unterkommen. Die Organisationen, die sich in Südtirol mit dem Thema beschäftigen, sprechen von mindestens 1.200 Obdachlosen nur in Bozen. Italienweit sollen laut nationalem Statistikinstitut Istat 0,2 Prozent der Bevölkerung obdachlos sein. Dabei wird nicht unterschieden zwischen Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit, ungesichertem und ungenügendem Wohnen. Gemäß dieser Betrachtungsweise sind die Gäste des HdS wohnungslos. Gemäß dieser Betrachtungsweise gäbe es in Südtirol viel mehr Menschen ohne adäquater Wohnmöglichkeit.

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Traurig sind nicht nur die Zahlen, sondern auch, dass wir seit 20 Jahren vom Gleichen reden. Im fernen Jahr 2000 arbeitete ich in der Caritas und wir gaben ein Büchlein mit Texten von Menschen auf der Straße heraus. Schon damals fiel die Zahl 500. Schon damals waren die Gründe dafür jene von heute.

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Doch wer sind die Obdachlosen, Wohnungslosen und prekär Wohnenden in Südtirol?
Als der stadtbekannte Bozner Obdachlose Giovanni Valentin, genannt Hansele, zu Weihnachten des Jahres 2011 ums Leben kam, wurde sein üppiges Vermögen bekannt, das er nie anrührte. Es habe ihn nicht interessiert, er habe auf der Straße leben wollen, hieß es in den Nachrufen auf ihn, sein Leben und Tod wurden verklärt. Aber es ist nie eine freie Wahl. Wenn du psychisch krank bist, hast du keine Wahl. Hanseles Leben und Tod ist keine romantische Geschichte, hätte man früher geholfen, wäre es vielleicht anders gelaufen.

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Vor allem aber ist er kein typischer Südtiroler Obdachloser. Wie in Wien, ist Obdachlosigkeit unglaublich vielfältig. Den „Penner“, der verwahrlost ist, trinkt, stinkt und auf der Parkbank lebt, den gibt es auch in Südtirol. Er ist aber die Ausnahme. Den meisten Obdachlosen sieht man ihre Not nicht an. Sauber, adrett gekleidet, freundlich: Auch so sieht Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit, ungesichertes und ungenügendes Wohnen aus. Obdachlosigkeit, die nicht auffällt. Es gibt Obdachlose in Anzug und Krawatte.

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Obdachlosigkeit betrifft immer mehr junge Männer, mit Arbeit, die aus den verschiedenen Krisenregionen der Welt kommend: Afghanistan, Pakistan, Maghreb, Subsahara. Nicht zu vergessen sind die tausenden Frauen, die als „badanti“ arbeiten und in ungesicherten Wohnverhältnissen leben. Die Zahl ist seit 2012 wegen Wirtschaftskrise und Migration vermutlich angestiegen. Corona wird die Zahl vermutlich weiter anwachsen lassen.

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Was wäre aus Hansele geworden, wenn er professionelle psychische Betreuung bekommen hätte? Den Mechaniker aus Afghanistan, der ein Jahr unter der Brücke lebte, und mit Alkohol anfing um die Kälte zu bestehen, und Alkoholiker blieb? Den kaum volljährigen Nigerianer, der Marihuana verkaufte, um sich ab und zu die Unterkunft in einer Pension zu leisten?

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Wir alle stehen immer wieder vor Scheidewegen. Gerade auch Menschen, die prekär wohnen oder unterkommen. Klar, es ist müßig zu fragen, was wäre wenn. Fest steht, dass in Südtirol viele Wege in die Obdachlosigkeit führen. Da gibt es den Einheimischen, der sein Haus verliert, vielleicht wegen einer Scheidung, und zu trinken beginnt. Es gibt den Migranten, der ins Land kommt, arbeitet, langsam den Kontakt zu seiner Familie und dann seine Arbeit verliert und abdriftet. Den EU-Ausländer, der nach Italien kommt, versucht Fuß zu fassen, aber auf der Straße landet. Und immer wieder psychische Probleme, Gewalt in der Familie, Alkohol, Drogen.

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Das sind die individuellen Ursachen. Dann gibt es noch die strukturellen: die Immobilienspekulation, die dazu führt, dass in Südtirol laut AFI-Arbeitsförderungsinstitut 15.000 (!) Wohnungen leer stehen, der Tourismus und die Förderpolitik des Landes, die dazu führen, dass die Miet- und Wohnungspreise wie in den Metropolen München oder Mailand sind, der saisonale Bedarf an Arbeitskräften, der SBB spricht von über 20.000 ErntehelferInnen, die oft keine Unterkunft bei ihren ArbeitgeberInnen finden, die unflexiblen Mietregelungen, die viele VermieterInnen den Leerstand vorziehen lassen.

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Dazu kommen wenig Sensibilität für das Thema. Viele SüdtirolerInnen sind überzeugt, dass Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit, ungesichertes und ungenügendes Wohnen ein individuelles Problem ist: Schuld sind die Betroffenen selbst, die ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen. Schließlich Ängste, Vorurteile und Rassismen: Auch wenn wir im HdS grundsätzlich sagen, unsere Gäste sollen bei der Wohnungssuche die Telefonate selbst machen. Manchmal tun wir es doch. Es ist erschreckend, was wir da zu hören kriegen, warum eine Vermietung an Menschen aus anderen Ländern nicht geht, warum VermieterInnen lieber Hunde hätten als solche Menschen, wie sie im HdS wohnen.

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Das Leben auf der Straße ist alles andere als leicht. Auch ein Obdachloser muss von etwas leben. Manche betteln, leihen sich Geld, verkaufen die Straßenzeitung „Zebra“, manche stehlen oder dealen, manche bekommen von Pfarrern und Ordensleuten Geld zugesteckt oder werden von ihren Familien und Freunden unterstützt. Manche nutzen andere Obdachlose aus, arbeiten schwarz oder auch ganz legal.

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Insgesamt gilt: „Je länger obdachlos, desto unwahrscheinlicher die Rückkehr“

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Der Ausstieg aus der Obdachlosigkeit ist schwierig, nur zwei von zehn schaffen es, schätzen ExpertInnen. Obwohl ihnen geholfen wird, aber nicht immer so, wie sie es brauchen. Um allen zu helfen – ausreichend zu helfen, fehlen die Ressourcen. Denn Obdachlose, Wohnungslose und prekär Wohnende haben keine Lobby. Sie fallen nicht auf, stören nicht, tun keinem weh. Obdachlose werden allzu oft vergessen, auch und vor allem in einem reichen Land wie Südtirol. Die Gesellschaft muss Solidarität vorleben, tut es aber nicht. Zuhören statt urteilen. Begleiten, jeden ernst nehmen. Viele Organisationen, wie auch das HdS, probieren das.

Um dies zu ändern haben wir einige Ideen, die nicht auf Theorie basieren, dafür aber in der Praxis entstanden sind:
1. Die 15.000 Leerstände sofort nutzen, indem entweder belohnt, z.B. Prämien, oder bestraft wird, z.B. Steuern, Strafen …
2. Die Mietpreise deckeln, so wie es z.B. in Berlin probiert wird.
3. Die Förderungspolitik des Landes so umgestalten, dass sie vor allem jene, die es brauchen, unterstützt, und nicht jene, die ohnehin schon haben.
4. Mit Hilfe von MietpatInnen, wie z.B. in Wien die Wohnpartner, Menschen aus anderen Ländern begleiten, sich in den Wohnungen zurechtzufinden, die Gewohnheiten bei uns zu lernen, Probleme zu vermeiden, und dadurch mehr WohnungsbesitzerInnen gewinnen, ihre Wohnungen zu öffnen.
5. Die Kriterien für Aufnahmen in Obdachlosenstrukturen überdenken und mehr an die Bedürfnisse anpassen.

Voraussetzung ist, dass die Politik etwas ändern will. Will sie das aber?

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