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„Neubelebung der Solidarität“

Stephane-Hessel--Edgar-Morin--Wege-der-Hoffnung--Koch-WolframDas Haus der Solidarität als Zukunftsvision des Bestsellerautoren und politischen Aktivisten Stéphane Hessel und Edgar Morin in deren Buch „Wege der Hoffnung“ (Ullstein) (S. 31ff).

„Wohlergehen erfordert mehr Solidarität, als uns verblieben ist. Wie wäre es mit »Häusern der Solidarität«? Sie könnten in den Mittel- und Großstädten sowie jeweils mehrfach in Weltstädten wie Paris errichtet werden. Unter ihrem Dach wären alle bestehenden öffentlichen und privaten Solidareinrichtungen zusammenzuführen. Über deren Leistungen hinaus würden sie Menschen in seelischer oder materieller Not Erste Hilfe leisten und sich der Opfer einer Überdosis nicht nur von Drogen, sondern auch von Kummer und Leid annehmen. Solange Schwierigkeiten bestehen, in einem

Krankenhaus aufgenommen zu werden, würden sie auch ärztliche Notversorgung anbieten.

In Zeiten autoritärer Familien- und Gesellschaftsstrukturen waren die Menschen in ein Korsett von Normen gezwängt. Sie mussten dafür mit unzähligen Frustrationen bezahlen. Mit zunehmender Emanzipation in Familie und Gesellschaft und der Auflösung starker und dauerhafter Gemeinschaftsbindungen wurde es für Paare leichter, sich zu trennen oder scheiden zu lassen. Dies führte zu Neurosen, Leid, Einsamkeit und seelischen Störungen. Es bedarf aufmerksamer und liebevoller Zuwendung, um dies alles zumindest ein wenig zu lindern.

Die »Häuser der Solidarität« wären somit Mittelpunkte sowohl der Freundschaft wie auch konkreter Hilfe mit mehrfachem Auftrag. Sie würden Initiativen, Mediation, Verständnis, Zuwendung, Hilfe, Information, ehrenamtliche Tätigkeit und Bereitschaftsdienste bieten.

Zusätzlich erscheint ein ziviler Notdienst dringlich. Er würde über seinen Einsatz für diese Häuser hinaus bei Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Erdbeben, Wassermangel usw. nicht nur in Frankreich, sondern auch anderswo in Europa und in der Welt eingreifen. Auf diese Weise wäre in der von uns anvisierten reformierten Gesellschaft Geschwisterlichkeit fest verankert.

Der Neubelebung der Solidarität würden auch zwei Reformen dienen. Eine haben wir schon genannt: den Abbau von Bürokratie. Er würde die Robotermentalität aus den Büros und Betrieben verbannen und dafür sorgen, dass die Arbeitnehmer wieder mehr Initiative entfalten, miteinander kommunizieren, Antragsteller und Kunden ernst nehmen und sich auf alles einlassen, was ihnen begegnet. Die andere Reform betrifft das Bildungswesen. Sie würde die jungen Menschen für die grundlegenden globalen Probleme ihres künftigen Lebens als Mensch und Bürger und für den unauflöslichen Zusammenhang Individuum/Gesellschaft/Menschheit empfänglich machen.

Zu unserer Vorstellung von Mitmenschlichkeit gehört auch, dass Zuwanderer nicht als ungebetene Eindringlinge zu sehen sind, sondern als dem Elend entkommene Schwestern und Brüder. Dieses Elend geht ja auf die Kolonialisierung vergangener Zeiten zurück, ebenso wie auf die Kolonialisierung

von heute durch die erzwungene Übernahme unseres Wirtschaftssystems. Dieses System hat vielfältige Kulturen der Sicherung materieller Existenz zerstört, Massen von Landbewohnern in das Elend der Slums getrieben und an der Spitze der Staaten die schlimmste Korruption wuchern lassen.

Sicherheit ist natürlich ein ernstes Problem, besonders im öffentlichen Personenverkehr und in bestimmten Vororten. Dennoch sollten die Möglichkeiten der Resozialisierung und der Vergebung von jungen Straftätern, die nach unseren Vorstellungen noch formbar sind, voll ausgeschöpft werden. Wie das Beispiel der Vereinigten Staaten lehrt, leistet hartes Vorgehen bloß der Straffälligkeit Vorschub. Die Gefängnisse sind wahre Brutstätten der Gewaltkriminalität. Wen die Gesellschaft ablehnt, der lehnt seinerseits sie ab — und uns. Wir treten nachdrücklich für eine Politik der Prävention ein. Sie darf sich nicht in städtebaulichen Maßnahmen, Videoüberwachung und verstärkter Polizeipräsenz erschöpfen. Mit Urbanisierung und Stadtplanung allein ist es nicht getan. Wir brauchen eine Politik der Vermenschlichung und Fürsorge. Beispiele sind Medellín in Kolumbien, in Rio die Favelas Cantagalo und Pavão Pavãozinho, in Caracas ein Symphonieorchester mit Jugendlichen aus den Slums. Sie belegen, dass wir Jugendkriminalität  drastisch verringern können, wenn wir die Würde der Kinder und Heranwachsenden achten, ihnen Zugang zu Bildung, Informatik und künstlerischer Betätigung geben und vor allem Verständnis und Zuwendung entgegenbringen.

Stéphane Hessel, wurde 1917 in Berlin geboren. 1924 zog er mit seinen Eltern nach Paris. Seit 1937 ist er französischer Staatsbürger. Er war Mitglied der Rèsistance und hat das KZ Buchenwald überlebt. Ab 1946 gehörte er der Vertretung Frankreichs bei den Vereinten Nationen in New York an und war an der Redaktion der Charta der der Menschenrechte beteiligt. Im Auftrag der UNO war er anschließend jahrzehntelang als Diplomat tätig. Seine Streitschriften „Empört Euch!!“ und „Engagiert Euch!“ sind Weltbestseller.

Edgar Morin, geboren 1921, ist einer der einflussreichsten Soziologen und Philosophen Frankreichs. Er war aktives Mitglied der Rèsistance und schon bald nach dem Krieg einer der führenden kommunistischen Intellektuellen des Landes.

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