Home » HdS-News » Vier Augen und ein Patt

Vier Augen und ein Patt

4-AugenDas HdS hat als Wohnstätte für Menschen in schwierigen Lebenslagen keine formellen Aufnahmekriterien.

Lange Striche ziehen sich über den braunen Oberkörper. Kreuz und quer, dem wahllosen Gekritzle eines Kindes gleich. Die Striche sind 15-20 Zentimeter lang und vernarbt. Folterspuren. Der Mann bewegt sich langsam und behäbig. Alles passiert in Zeitlupe – als sei die Lebensuhr eingebremst.

Der Mann stammt aus iranisch-Kurdistan – ein Land, das es nicht geben darf.

Aufnehmen oder nicht aufnehmen?

„Aufnehmen oder nicht aufnehmen?“, das ist die Frage. Der eine ist dafür, der andere dagegen. Nein – der eine hat ein „komisches Gefühl“, zumal das Haus nahezu voll besetzt ist und das Zugluftfest, und damit über die Grenzen gehende Belastung, vor der Tür steht. Ja: Den anderen zerfrisst das Gewissen, wenn er den Mann verschickt.

Die bewährte Methode des Vieraugengesprächs versagt. Was hunderte Male funktionierte, endet plötzlich im Patt. Denn bisher galt: Vier Augen sehen mehr als zwei, hören genauer, fühlen tiefer. Unterschiedliche Beobachtungen und Meinungen fließen zusammen und führen zur Enscheidung.

Keine formellen Aufnahmekriterien

Denn formelle Aufnahmekriterien gibt es im HdS nicht. Dafür einige wenige Faustregeln: die Gäste ausgeglichen zusammensetzen – in bezug auf Herkunft, Geschlecht, Problem; die Kapazitäten des Hauses und der Mitarbeiter nicht überlasten; andere Lösungen erwägen; Aussagen und Erfahrungen anderer Institutionen mitberücksichtigen; vor allem aber tief in sich hineinhören und das Gefühl einbeziehen.

Die Entscheidungen sind entsprechend unkompliziert, unkonventionell, unbürokratisch, meistens effizient und effektiv.

Hätten wir im Falle des iranischen Kurden doch eine Checkliste. Wir hätten sie einfach ausgefüllt und das Ergebnis dann errechnet. Die Entscheidung wäre eine mathematische Übung gewesen: sauber, sachlich, steril. Gewissen und Gefühl wären auf der Strecke geblieben, und mit ihnen drei Verlierer.

Alles Objektive ist subjektiv

Selbst unser Bestreben, von der Pattstellung zu lernen, und formelle Kriterien zu erarbeiten gelang nicht. Klügere aus dem Bereich der Gehirnforschung haben nun empirisch nachgewiesen, was Philosophen seit Jahrhunderten wussten: Alles Objektive ist subjektiv. Es gibt nichts ohne Meinungen, Wünschen, Neigungen, Interessen, Vorurteilen, Zuschreibungen.

Überhaupt: Lässt sich Not mit Checklisten messen? Geben objektive Kriterien mehr Gewissheit, das Richtige zu tun, als Gefühle? Wer sagt, dass der Nächste, der an der Tür steht, die Hilfe mehr, weniger oder gleich braucht?

So bleibt alles beim Alten, und das HdS ohne Aufnehmekriterien. Der Kurde indes, wurde aufgenommen.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

*